Freitag, 22. Mai 2020:Textimpuls von Ruth Hermanns

Die Evangelisten berichten von den unterschiedlichen Erscheinungen des am Kreuz getöteten Jesus Christus. Immer noch scheint er seinen Jüngerinnen und Jüngern auf diese Weise greifbar zu sein, sichtbar, spürbar, nah.
Viele Menschen, die einen geliebten Menschen verlieren, kennen solche Erlebnisse: den Gestorbenen, die Gestorbene zu spüren, zu sehen, zu hören, mit ihm oder ihr zu sprechen. Und dann wieder die sehr schmerzliche Erkenntnis: Er oder sie ist nicht mehr da.
Das Erzählen der verschiedenen Erscheinungen durch die Evangelisten mutet an wie ein allmählicher Prozess des Abschiednehmens - und dabei Formierung des neuen Glaubens an die Auferstehung.
Gestern das Fest Christi Himmelfahrt. Wieder eine neue Erfahrung: nun entfernt sich der Gekreuzigte, der Erschienene – in eine andere, nicht mehr mit den Augen, mit den Sinnen erreichbare Dimension.
Die Dimension des Lichtes, des Aufgehobenseins und auch der Weitung, Transformation.
Die frohe Botschaft: wir werden aufgehoben sein mit allem, was uns ausmachte, in Gottes Haus aus Licht. Er geht voraus, bereitet Wohnung für uns vor im „Hause meines Vaters“.
Nicht wirklich begreifbar, eher ahnbar – und Glauben herausfordernd.
Kaum faßbar dieses Ereignis für Verstand und Worte: Aufgefahren in den Himmel…
Es braucht dafür die Sprache der Bilder wie in den Evangelien – oder auch der „unsagbaren“ Worte, wie das in Gedichten geht:
Freies Geleit
Da wird ein Ufer
zurückbleiben.
Oder das Ende eines
Feldwegs.
Noch über letzte Lichter hinaus
wird es gehen.
Aufhalten darf uns
niemand und nichts!
Da wird sein
unser Mund
voll Lachens –
Die Seele
reiseklar –
Das All
nur eine schmale Tür,
angelweit offen –
(Heinz Piontek. In: Vom Abschied. 1987)